Hanno Pilartz mit dem sächsischen Vertreter auf der Arbeitskreistagung 2008.
Hanno Pilartz betrachtet das Für und Wider

Gedankenlosigkeit bei der Sattelauswahl geht zu Lasten des Pferdes.

Die schlechte Nachricht zuerst: Eigentlich können wir Pferde gar nicht reiten, ohne ihnen zu schaden. Warum? Die Auflagefläche eines durchschnittlichen Sport-Sattels beträgt maximal um die 500 Quadratzentimeter. Diese Fläche wird – sagen wir – mit einem 75 kg schweren Reiter belastet. Dessen Gewicht erhöht sich durch die Bewegungsdynamik – z.B. das Einsitzen im Trab – etwa um den Faktor 4. Dadurch ergibt es eine Druckbelastung von ca. 600 Gramm pro Quadratzentimeter. Aus der Dekubitusforschung („Wundliegen“) an Mensch und Tier wissen wir, dass schon ein Druck von 450 Gramm (wissenschaftlich korrekt rd. 4,5 Kilo-Pascal oder 4500 Newton) pro Quadratzentimeter mittelfristige Schäden verursachen kann.
An der Universität Zürich beschäftigt sich Brigitte von Rechenberg schon seit vielen Jahren mit Druckmessungen unter Reitsätteln. Von ihr und Ihren Studenten und Mitarbeitern gibt es eine stattliche Anzahl von wissenschaftlichen Arbeiten und Veröffentlichungen zum Thema. Daraus ergibt sich, dass Pferde etwa das Dreifache der o. g. 450 Gramm schadlos vertragen. Der Grund dafür ist vermutlich, dass ihr Rückenmuskel im Unterschied zum Dekubitus-Patienten in der Vorwärtsbewegung sehr aktiv ist und daher stark durchblutet wird. Dies scheint der durchblutungsbe-einträchtigenden Druckbelastung entgegen zu wirken.
Gut so, denn die eingangs erwähnten 500 Quadratzentimeter stehen uns vollständig nur zur Verfügung, solange das Pferd steht. Sobald es läuft, verändert sich die Rückenform ständig und die wirksame Auflagefläche wird dadurch kleiner.

Die obigen Zahlenspiele zeigen, dass

  •  die Auflagefläche eines Reitsattels auf gar keinen Fall kleiner werden darf;
  • jegliche „Vorfälle“, die zu weiterer Druckerhöhung führen, wie eine schlechte Sattel-Passform oder Falten in der Satteldecke fatale Folgen haben können.

Flexible Sättel oder gar Sättel ohne Baum haben auf den ersten Blick den Vorteil, sich zumindest in den Längsbiegung des Pferderückens gut anzupassen. Ein sogenanntes Brückenphänomen, also ein Sattel, der in der Mitte hohl liegt, kommt bei flexiblen Sätteln im Prinzip nicht vor. Das Brückenphänomen wurde auch an der Universität Zürich als eines der schwerwiegendsten Sattelpassform-Probleme erkannt.
Leider verteilen aber alle derzeit auf dem Markt befindlichen flexiblen Sattelsysteme das Reitergewicht erheblich schlechter als ein Sattel mit starrem Baum. Nach den Hebel-Gesetzen der Physik ist das zwangsläufig.
Die erwähnten 500 Quadratzentimeter des starren Sattels reduzieren sich bei flexiblen Sätteln auf höchstens die Hälfte, der Druck pro Quadratzentimeter steigt also etwa auf das Doppelte.
Im Prinzip wäre es möglich, das Reitergewicht gleichmäßig auf zwei flexible Flächen links und rechts der Wirbelsäule des Pferdes zu verteilen. Aber das könnte nur durch ein sehr aufwendiges und damit sehr teures System aus kalibrierten Hebeln realisiert werden. Aus Kostengründen hat dies bis heute noch niemand versucht.

Woher kommt nun der recht große Erfolg von flexiblen Sätteln? Fast alle positiven Meinungen basieren auf schlechten Erfahrungen mit Sätteln, die einen starrem Baum hatten, aber nicht passten. Stößt ein Sattel mit starrem Baum z.B. in Biegungen oder Wendungen mit dem vor und zurück schwingenden Schulterblatt des Pferdes zusammen, weil der Sattel in diesem Bereich nicht passt, ist es kein Wunder, wenn das Pferd beim Reiten Probleme macht. Passen Winkelung und Weite des Kopfeisens nicht zur Rückenform, sind aufgrund des berüchtigten „Klemm-Keil-Effektes“ zunächst Drucknekrosen, in der Folge oft eine Rückbildung der gesamten Rückenmuskulatur und im schlimmen Fall Probleme mit dem Becken und dem Darmbeingelenk zu erwarten. Der bekannte Wiener Tierarzt Dr. Robert Stodulka beschreibt auf seiner Internetseite sehr treffend, dass sich Rückenprobleme aufgrund von nicht passenden Sätteln sehr unterschiedlich äußern können. Oft reicht ein gut passender Sattel alleine zur Therapie nicht (mehr) aus. Ein guter Osteopath oder Chiropraktiker sowie geduldige gymnastizierende Arbeit an der Hand sind häufig zusätzlich erforderlich.

Wird ein Pferd nach schmerzhaften Erfahrungen mit nicht passenden Sätteln erstmals mit einem baumlosen Sattel geritten, geht es dem Tier etwa so wie einem Bergwanderer, der nach einem Marsch mit zu engen Wanderschuhen Flipflops anziehen darf. Ob es aber eine gute Idee ist, die Bergwanderung mit Flipflops fortzusetzen?
Probleme mit baumlosen Sätteln zeigen sich relativ schnell, wenn Druck auf die Dornfortsätze ausgeübt wird. Das kommt oft bei Pferden vor, deren Rückenmuskulatur die Wirbelsäule nicht gut „einbettet“.
Kaum zu erwarten ist dieses Problem bei gut trainierten Distanzpferden mit stark aufgewölbten Muskelsträngen im Rücken, zwischen denen die Dornfortsätze der Wirbel wie in einer Rinne liegen. Wenn längere Distanzritte erfolgreich mit baumlosen Sätteln geritten werden können, dann vor allem aufgrund des Trainingszustandes der Pferde und der zumeist ebenso trainierten, sehr gut sitzenden Reiter, die selten Schwergewichte sind. Auf einen Wochenend-Freizeitreiter – nicht selten schwerer als der athletische Distanzler - und sein oft wenig trainiertes Pferd ist so etwas aber nicht übertragbar. Ebenso wenig auf den Wanderreiter mit etlichen Kilogramm Gepäck am Pferd.
Bei flexiblen und baumlosen Sätteln treten Probleme jenseits vom erwähnten Druck auf die Dornfortsätze zumeist in Form von großflächigen Drucknekrosen auf, die sich sehr schleichend entwickeln. Wie bei allen anderen Rückenproblemen des Pferdes ist eine Diagnose oft schwierig.

Warum gibt es so viele nicht passende Sättel mit starrem Baum? Zunächst scheinen gute Sattelfachleute, die einen Sattel mit starrem Baum gründlich auf seine Passform zum Kundenpferd überprüfen können, seit etlichen Jahren seltener zu werden. Weiter scheint es durch „Rasse-Mixe“ („Ich will ein Fohlen aus meiner Stute…“) immer mehr Pferde mit ungewöhnlicher Rückenform zu geben. Wird für so ein Tier ein „Maßsattel“ angefertigt, handelt es sich oft nur um ein mit untauglichen Mitteln modifiziertes Serienmodell. Schließlich neigen immer mehr Menschen dazu, Pferde zu reiten, die eigentlich zum Fahren gezüchtet wurden, wie z.B. Tinker, Traber, Friesen und Kaltblüter.
Die Folge ist der Boom baumloser und flexibler Sättel. Dabei steckt zumindest in baumlosen Sätteln auch nicht das allerkleinste Stückchen neuer Technologie. Vom Funktionsprinzip entsprechen diese Sättel den Sattelkissen, mit denen die Skythen vor ca. 3.000 Jahren geritten sind als der Sattelbaum noch nicht erfunden war. Zwar werden thermoplastische Schaum- und Kunststoffe aus Kostengründen verbaut, aber die verteilen das Reitergewicht nicht besser als Leder oder Langstroh, wie sie z.B. im andalusischen Vaquera-Sattel oder im Gauchosattel für Flexibilität sorgen. Das traditionelle Material hatte den großen Vorteil, bei Hitze nicht so butterweich zu werden wie thermoplastischer Schaumstoff oder der Kunststoff von Equiflex-Sattelbäumen.
Nach den Regeln der Physik kann ein baumloser oder flexibler Sattel nichts besser als ein gut passender Sattel mit starrem Baum, im Gegenteil.

Ein weit verbreitetes Ammenmärchen besagt, dass Pferde sich im Rücken ständig verändern, daher Sättel dauernd angepasst werden müssten. Tatsächlich sollte ein starrer Sattel dem Pferderücken so angepasst werden wie z. B. der oben erwähnte Wanderschuh. So wie ein guter Schuh dem menschlichen Fuß Platz zum Abrollen lässt, muss der Sattelbaum dem Pferderücken Platz für seine ständige Formveränderung in der Vorwärtsbewegung lassen. Als „Bewegungspuffer“ gehört eine gut polsternde Unterlage zwischen den starren Baum und den empfindlichen Rücken. Hierbei geht die Tendenz seit neuestem wieder zurück zur Tradition. Augenscheinlich gibt es in Sachen Druckverteilung, Pufferung und Atmungsaktivität nichts Besseres als Wollfilz vom Schaf, ob nun in Form eines dicken Wollfilz-Pads, eines Lammfells oder des alten Woilachs, der mehrfach gefalteten Wollfilzdecke wie sie bei fast allen Reiterarmeen üblich war.
Was Platz für die Bewegung des Pferderückens lässt, kann ein bisschen mehr oder weniger Fett auf dem Rücken locker verkraften. Oft wird beim Training des Pferdes im Rücken Unterhautfettgewebes ab- und Muskelmasse aufgebaut, so dass sich das Pferd im Rücken nur anders anfühlt, aber kaum in der Form verändert.
Extreme Formveränderungen wie bei einem völlig verfetteten Pferd oder einem Tier mit Senkrücken und Kissing Spines stellen die Reiteignung grundsätzlich in Abrede, solch ein Pferd braucht keinen Sattel.

Schließlich sind flexible und baumlose Sättel vor allem ein Bomben-Geschäft. Man braucht im Vergleich zum starren Sattel nur wenige Größen passend zum Reiter und evt. zur Rückenlänge des Pferdes zu fertigen, der hoch belastete Sattelbaum entfällt ganz, Lagerhaltung und Vertrieb sind wesentlich einfacher, das aufwendige, zeit- und beratungsintensive Anpassen entfällt weitgehend.
Das allertollste ist aber, dass man Baumlose bei Ebay ersteigern kann, ganz ohne Reue und Rückgaberecht.


Wie bei vielen anderen „schnellen“, einfachen Lösungen auch geht das nicht selten zu Lasten des Pferdes.


 

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