Ein Artikel von Elli H. Radinger
Deutschland ist wieder Wolfsland. Streng geschützt ist der große Beutegreifer auf eigenen Füßen zurückgekehrt, und er ist hier, um zu bleiben.
Im Gegensatz zu unseren südeuropäischen Nachbarn, die schon lange entspannt mit ihm leben, hat eine so (vermeintlich) offene und aufgeklärte Nation wie Deutschland offensichtlich Probleme mit dem Neubürger und greift tief in die Märchenkiste. Große Teile der Jägerlobby üben sich in Panikmache und nutzen jede (wahre oder erfundene) Gelegenheit, um auf die Gefährlichkeit des Wolfes aufmerksam zu machen.
Es ist verständlich, dass Menschen, die Wölfe nur aus Filmen oder dem Zoo kennen, Angst um ihre Kinder, Hunde, Pferde oder Nutztiere haben. Wir alle müssen erst noch lernen, mit Wölfen zu leben. Grund für Panik besteht jedoch nicht.
Wie gefährlich ist der Wolf wirklich?
Die Zahlen sind eindeutig: In ganz Europa sind in den letzten 50 Jahren neun Menschen von Wölfen getötet worden. Neun! Fünf davon sind an Tollwut gestorben und vier hatten in der Nähe einer spanischen Stadt Wölfe angefüttert.
Ich beobachte seit über 20 Jahren wild lebende Wölfe in Amerika und hatte zahlreiche Nahbegegnungen mit den großen Beutegreifern. Niemals habe ich mich in Gefahr gefühlt.
Wölfe sind hochintelligente und sehr anpassungsfähige Beutegreifer. Ihr Verhalten ist individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig. Es gibt sowohl die vorsichtigen als auch die kecken und forschen Persönlichkeiten. Jungwölfe, die im Alter von ein bis zwei Jahren ihre Familie verlassen, sind extrem neugierig und können sich durchaus einmal Menschen nähern. Das ist nicht „unnatürlich“, sondern ein ganz normales Verhalten.
Verhalten in Wolfsgebieten
Hier zusammengefasst einige der wichtigsten Verhaltensregeln in einem Wolfsgebiet:
Fußgänger/Jogger/Radfahrer
Die oberste Regel für alle, die einem Wolf begegnen, lautet: Niemals wegrennen! Als Beutegreifer, der Tiere jagen muss, um zu überleben, ist der Wolf an allem interessiert, was sich schnell bewegt. Begegnen Sie einem Wolf, bleiben Sie ruhig stehen und genießen Sie den Anblick. Hat der Wolf Sie entdeckt, wird er sich zurückziehen. Bleibt er stehen und/oder nähert er sich, sprechen Sie ihn mit fester Stimme an: „Hallo Wolf. Hau ab!“
Entgegen mancher „Expertenratschläge“ empfehle ich, dass Sie keine Steine oder Gegenstände nach ihm werfen. Das könnte ihn nur neugierig machen und anreizen, sich zu nähern.
Hundehalter
Im Wolfsgebiet gehören Hunde grundsätzlich an die Leine. Wölfe sind sehr territorial und werden besonders in der Paarungszeit ihr Revier verteidigen. Kommt ein Wolf auf Sie zu, nehmen Sie ihren Hund dich hinter sich und verfahren Sie wie oben beschrieben.
Für Reiter
Natürlich können Sie weiterhin im Wald ausreiten. Begegnet Ihnen ein Wolf, steigen Sie ab und stellen Sie sich neben Ihr Pferd. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr Tier schon als Fohlen auf Geräusche und andere Umweltsignale sensibilisiert haben, sodass es nicht bei jedem Geräusch oder jeder Bewegung im Gebüsch scheut. Wenn es an Hunde gewöhnt ist, um so besser.
Auch wenn Sie im Kern-Wolfsgebiet leben und Ihre Pferde auf der Weide stehen, müssen Sie sich keine Gedanken machen. Ausgewachsene Pferde sind Wölfen zu wehrhaft. Wenn Sie Fohlen haben, sollten Sie über einen Wolfszaun nachdenken, so wie ihn Nutztierhalter verwenden Die Fohlenrisse, über die kürzlich die Zeitungen berichteten, wurden übrigens von einem wildernden Hund verübt.
Nutztierhalter
Wölfe stellen in der Regel einen festen Räuber-Beute-Bezug her. Das bedeutet, dass sie – mit wenigen Ausnahmen – nur die Tiere jagen, die ihre Eltern als potenzielle Beute betrachtet haben. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Tiere, die in einer relativen Fülle vorhanden und leicht zu erbeuten sind. Aus der evolutionären Perspektive gesehen, ist die Angewohnheit nur das zu jagen, was man kennt, einfach eine gute Methode, um zu überleben.
Die Beuteprägung ist auch der Grund dafür, dass man Wölfe beobachten kann, die an Rinderherden vorbei- oder sogar mitten durch sie hindurchlaufen, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen.
Schafshalter dagegen müssen umdenken und aufrüsten, wenn sie im Wolfsgebiet leben. Wolfssichere Zäune und Herdenschutztiere (Hunde oder Lamas) sind ein Muss. Hierfür bekommen Sie auch finanzielle Unterstützung durch das jeweilige Bundesland. Detaillierte Fragen können die örtlichen Wolfsberater beantworten.
Eltern mit Kindern
Nur im Märchen frisst der Wolf kleine Kinder. Grundsätzlich sollten Sie jedoch in Wolfsgebieten kleine Kinder beaufsichtigen und nicht alleine draußen spielen lassen. Nebenbei gesagt denke ich, dass die zweibeinigen „Wölfe“ eine sehr viel größere Gefahr für Kinder sind als die Vierbeiner.
Wir können lernen, wieder mit Wölfen zu leben. Alles was wir dazu brauchen, ist Zeit, den Willen und den Mut, manchmal auch ein wenig Angst auszuhalten. Draußen im Wald, in der Stadt und auf der Straße lauern ganz andere Gefahren als ein paar vereinzelt durchziehende Wölfe. Der Wolf ist Laufe vieler Zehntausend Jahre als Hund zu uns gekommen und hat sein Leben mit uns geteilt. Das Mindeste, was wir ihm jetzt schulden, ist ein wenig Akzeptanz, damit er in Ruhe leben kann.
Buchtipps
Ausführliche Informationen zum Leben in Wolfsgebieten finden Sie hier:
Der Wolf ist zurück. Was mache ich, wenn …?
Günther Bloch und Elli H. Radinger
Eine Rezension zu diesem Buch von Hanno.M. Pilartz Rezension_Der_Wolf_ist_zurück.pdf33.11 kB
Wolfsangriffe. Fakt oder Fiktion?
Elli H. Radinger
Weitere Infos und aktuelle Wolfsnachrichten
© Elli H. Radinger
Titelfoto: Paukereks Pixelio